Manche unserer Traditionen sind offensichtlich verschlüsselt und verweisen auf ein Konzept von uns selbst, von dem wir meist keine Ahnung haben…
Ähnlich wie bei den Händen ist die Analyse der Füße diesbezüglich sehr aufschlussreich und bringt zum Vorschein die einzigartige feinstoffliche Architektur, die den Menschen mit dem Unsichtbaren verbindet.
Das Erste, was auffällt, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, ist die Tatsache, dass unser dualistisches Menschenbild gleich zwei widersprüchliche Deutungsansätze liefert… Entweder betrachten wir unsere Füße als einen der bescheidensten Körperteile überhaupt – der Ausdruck für unsere Kleinheit ist und in jeder Hinsicht „nicht weit über den Boden ragt“–, oder sie bekunden die Schönheit der Inkarnation. In diesem letzten Fall werden die Füße zur „edlen Erdverbindung“ des Geistes, der einen Körper annimmt, um diesen zu erlösen.
In der abendländischen Gesellschaft, die von der jüdisch-christlichen Kultur geprägt ist, neigt man häufig dazu, bei der ersten, oberflächlichen Betrachtung der Dinge stecken zu bleiben. Durch das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Materie – oder auch zwischen „oben“ und „unten“ –, das traditionell in unserer Gesellschaft herrscht, sehen wir eher mit Verachtung alle Körperteile, die uns zwingend mit der Erde verbinden, und betrachten unsere Füße „von oben herab“.
Dennoch kann man vor dem Hintergrund des judisch-christlichen Erbes nicht umhin, an die berühmte „Fußwaschung“ zu denken, die Christus vor seinem letzten Abendmahl an seinen Jüngern vollzog… eine Geste, die wir hauptsächlich als ein letztes Zeichen der Demut betrachten, das unser Bewusstsein nähren soll; eine Geste auch, die uns direkt an den zweiten Blickwinkel heranführt, aus dem wir nun den menschlichen Fuß betrachten sollen.
Wie man weiß, war das Ritual der Fußwaschung in vielen alten Zivilisation eine übliche Handlung. Vor dem Betreten eines Tempels sollte man sich immer die Füße waschen und darüber hinaus konnte man auch mit einer Fußwaschung einen besonderen Gast willkommen heißen und ihm damit Ehre erweisen. In der jüdischen Religion war es zum Beispiel üblich, im September vor einer bevorstehenden Hochzeit – die meist im Frühling stattfinden soll – die Zeremonie der Fußwaschung vorzunehmen, die später in der gesamten christlichen Tradition „podonipsiae“ genannt wurde. In diesem Zusammenhang entspricht die Geste der Fußwaschung einer Ehrerweisung. Der Handelnde reinigt den anderen von einer Last oder einem Leid und dient ihm damit „mit dem Herzen“, um seinen Weg zu erleichtern.
Daher das Symbol der „Vergebung der Sünden“, das die berühmte Geste Jesu für die Christen verewigt hat. Die Demut, die durch die Füße symbolisiert wird, lässt demzufolge eine Kraft entstehen, welche die Seele veredelt und vervollkommnet. Derjenige, der auf diese Weise aufgefordert wird, seine Beziehung zur Erde anders zu betrachten, befindet sich „am Fuße“ seiner Metamorphose. Er ist bereit für die Verwandlung, weil er versteht, dass der Teil von ihm, der mit Staub bedeckt ist und manchmal durch Unrat gehen muss, sein Bewusstsein vorantreiben kann und sogar muss. Die horizontale Ausrichtung der Füße spornt ihn an, die senkrechte Realität zu suchen und zu begreifen.
Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Füße in der abendländischen Einweihungstradition mit dem Sternzeichen der Fische in Verbindung gebracht werden. Wie beim Zeichen des Kreuzes handelt es sich bei den Fischen um ein doppeltes Zeichen. Wir dürfen nicht vergessen, das „Oben“ ruft das „Unten“ zu sich, aber umgekehrt gilt es ebenso…
Die Kenntnis der Fußnadis – ähnlich den Meridianen der chinesischen Akupunktur – kann uns helfen, dies besser zu verstehen. Wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, wird einem klar, dass die Füße in enger Verbindung mit dem gesamten Körper stehen.
Demnach kann die Berührung der Fußsohle Auswirkungen auf bestimmte Körperbereiche oder Körperfunktionen haben – und damit auch auf die Verhaltensmuster, die Emotionen und sogar die „Bewusstseinsräume“, wie zahlreiche Therapeuten bestätigen können.
In diesem Bereich sind schon viele Kenntnisse, die mit der energetischen Struktur des menschlichen Körpers und der Psyche zusammenhängen, bereits „entschlüsselt“ worden.
Um ein Beispiel zu nennen: Durch das Auralesen und andere Methoden weiß man, dass der große Zeh mit dem Kehlkopfchakra in Verbindung steht und damit mit dem Selbstausdruck der inkarnierten Persönlichkeit. Man weiß auch, dass sein direkter Nachbar – der zweite Zeh – mit der Verdauung und dem Herzchakra zusammenhängt und von „Ehrgeiz“ spricht… Man weiß auch von der Verbindung des dritten Zehs mit dem Solarplexus, der schöpferischen Fähigkeit und sogar der Aggressivität. Was den vierten Zeh angeht, so führt er auf die Leberfunktion und den Begriff der Bindung zurück, während der fünfte Zeh mit der Ausscheidung von Flüssigkeiten sowie mit Ängsten und Ur-Erinnerungen zu tun hat.
Dies stellt nur eine grobe Übersicht der Dinge dar, denn es handelt sich hierbei um einen sehr umfangsreichen Forschungsbereich.
Von Seiten der Asiaten ist die buddhistische Tradition in Hinsicht der Füße sehr aufschlussreich… Es gibt unzählige Darstellungen der Fußsohlen des Buddhas, meist mit zahlreichen Symbolen versehen: Quadrate, Räder, Blumen oder Geflecht.
Im Übrigen wird gesagt, dass der vollständige Fußabdruck des Buddhas, der in manchen heiligen Orten im Stein abgebildet ist, den Einfluss seiner Lehre auf der ganzen Welt darstellen soll.
Schauen wir nun in Richtung des Hinduismus nach. Auch da wird der Fuß als Kontaktpunkt eines „göttlichen Gesandten“ mit der Erde geehrt. Die Füße des spirituellen Lehrers – des Gurus, im positiven Sinne des Wortes – sind heute noch Gegenstand von rituellen Waschungen und Blumenverzierungen. Die Fußsohle wird als besonders heilig betrachtet, da sie die Vermählung von Himmel und Erde zelebriert.
Aus diesem Grunde zeichnet man bedeutungsschwere Symbole unter den Füßen der Göttin Lakshmi, insbesondere im Rahmen des indischen Neujahrsfestes Diwali, und betet dabei um Fülle und Glück.
Selbst die Moslems, die sonst keine Darstellung des Propheten zulassen, messen den Füßen eine gewisse Bedeutung bei. In diesem Sinne findet man im Topkapi-Palast in Istanbul, Türkei, zwei Fußabdrücke, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden.
In zahlreichen Kulturen symbolisiert der Fußabdruck – ähnlich einem Siegel, das in der westlichen Tradition „vestigium pedis“ genannt wird – die göttliche Besamung der Erde.
Wenn man noch einmal in Richtung Christentum schaut, soll es unter anderem in der Stadt Mailand einen Fußabdruck Christi geben, der im Stein eingraviert ist. Rom wiederum brüstet sich mit gleich zwei Fußabdrücken Christi am Eingang der Kirche Santa Maria in Palmis, wo der Apostel Paulus seine berühmte Vision hatte und fragte: „Quo vadis Domine?“
Parallel dazu bewahren die Kopten im Norden Ägyptens einen Fußabdruck ehrenvoll auf, der dem Kinde Jesu während seines Aufenthalts im Lande Pharaos zugeschrieben wird.
Man sollte auch den berühmten Schrein Roza Bal in der Nähe von Srinagar, Kaschmir, nicht unerwähnt lassen. Dieser Schrein, in dem sowohl die mündliche Überlieferung als auch die Akasha-Chronik das Grab Christi sieht, weist ebenfalls einen doppelten Fußabdruck im Stein auf, auf dem man Narben erkennen kann, die unschwer an eine Kreuzigung denken lassen…
Ganz egal, wohin man schaut, die Füße haben in der allgemeinen Kultur der Menschen einen ebenso festen und wichtigen Platz wie die Hände. Sie verbinden das Menschliche mit dem Göttlichen und umgekehrt, und sprechen von der Inkarnation als eine Gelegenheit der inneren Auferstehung – und nicht nur als ein „Ort“ von Prüfungen und Leiden.
Sogar unser griechisch-römisches Erbe erinnert uns daran, unter anderem mit dem verletzten Fuß des Ödipus, der verwundbaren Ferse des Achilles oder auch mit dem humpelnden Hephaistos, der so hässlich war, dass er kurzerhand von den Höhen des Olymps geschleudert wurde. Dieses Erbe erzählt auf eigene Weise das Drama der irdischen Menschheit, die von ihrem göttlichen Ursprung abgeschnitten ist.
Selbst Eva, unsere symbolische Stammmutter, wird von der Schlange der Trennung an die Ferse gebissen.
Ebenfalls im archetypischen Kontext erinnert uns Hermes – der mit seinen beflügelten Knöcheln den Himmel durchschweifte –, dass die Füße auch einen Punkt der Versöhnung darstellen können.
Lassen wir es aber mit diesen Überlegungen gut sein, wir wollen sie ja nicht bis ins Unendliche fortführen… Denn man könnte sich in der Tat fragen, was es überhaupt bringt, sich mit solchen Sachen zu beschäftigen. Haben wir ein solches Bedürfnis zu verstehen, was unsere Füße und Hände uns mitteilen wollen?
Es mag erstaunlich klingen, aber, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, tendiere ich dazu, diese Frage mit „Nein“ zu beantworten… Nein, wir brauchen das nicht wirklich… zumindest nicht, wenn wir all diese Fakten mit unserem Intellekt aufnehmen, indem wir lediglich Informationen sammeln, wie ein Bibliothekar, der nur darum bemüht ist, seine grauen Zellen und die der Leser zu befriedigen.
Wenn es nur darum geht, die Geschichte und die Symbolik zu studieren, um den Intellekt zu befriedigen, dann ergibt eine solche Forschung im Endeffekt wenig Sinn… besonders jetzt, da die Menschheit an einem Punkt ihrer Geschichte angelangt ist, in dem sich viele Menschen nach etwas anderem sehnen und vor allem das Bedürfnis verspüren, „das Leben besser einzuatmen“.
Natürlich ist der Wunsch nach Kultur ehren- und lobenswert, weil er die Gesellschaft bis in die Tiefe nährt, aber er ist am Anfang der sogenannten „Neuen Ära“ nicht mehr ausreichend.
Deshalb richten sich diese Zeilen eher nicht an den Intellekt des Lesers. Meine Absicht war zuallererst, den Teil in ihm zu stimulieren, der wachsen und reifen möchte – in anderen Worten den Teil, der über den Überfluss von Kenntnissen hinaus „die Erinnerung“ wachrufen kann.
Ja, es geht um „die Erinnerung“ und nicht um „Erinnerungen“ – nicht nur um die Erinnerung an unsere Verbindung mit der Architektur der Schöpfung und des Kosmos, sondern auch an unsere stetige Verwandtschaft mit dem Göttlichen, das ihr innewohnt und sich bis in unsere Wurzeln hinausdehnt.
Dieses Band besteht über die Zeit hinaus fort und schert sich nicht um Kultur, Glaube und Überzeugungen, denn es ist uns in Körper und Seele eingeprägt. Wer sein wahres Selbst finden will, der möge die Weisheit haben, es anzuerkennen, sowie die liebende Intelligenz, es als Sprungbrett zu nutzen.
Im Endeffekt gibt es nur eine einzige Lebensform, die das Universum der Universen durchwandert, von den Galaxien bis hin zu den Atomen… Und dieses Leben ruft uns stillschweigend dazu, die Erfahrung der Einheit zu machen…
© Daniel Meurois
Nachfolgend die Abbildung eines Abdrucks, der entsprechend der ägyptischen koptischen Kultur dem Kinde Jesu im Nildelta zugeschrieben wird. Jeder ist natürlich frei zu entscheiden, was er darin sieht…