FRANZ VON ASSISI – Der ignorierte Schamane 

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Wenn man bedenkt, welchen Eindruck Franz von Assisi in unserer Welt hinterlassen hat, kommt man dennoch nicht umhin, sich zu wundern, wie sehr er in allen Kulturen respektiert und verehrt wird. Tatsächlich geht das Interesse, welches der “Ärmste der Armen” seit jeher erweckt hat und noch immer erweckt, weit über den Kontext des Christentums hinaus. Allein sein Name stößt unverzüglich auf allgemeine Zustimmung und vermag es, Anhänger und Mystiker aller Glaubensrichtungen zusammenzubringen. Selbst die Muslime betrachten ihn als das, was sie einen großen “christlichen Sufi” nennen. 

Diese Tatsache erwägend, dass alle Religionen in gewisser Weise Franz von Assisi als einen der ihren anerkennen, muss man trotz allem auch feststellen, dass es eine Tradition gibt, innerhalb derer er nicht beachtet worden zu sein scheint. Ich spreche von der sehr weit verbreiteten Kultur des Schamanismus, die in vielfältiger Ausprägung in allen Breitengraden zu finden ist. Diese Feststellung ist meiner Meinung nach gänzlich überraschend, denn das erste der Merkmale von jenem, der sich unter den Brüdern von Assisi stets für den geringsten hielt , ist gerade seine enge und privilegierte Beziehung zu allen Kräften und allen Reichen der Natur. Sein berühmter ‘Gesang auf die Schöpfung’, das zweifellos weltweit am weitesten verbreitete Werk von ihm, liefert uns den unbestreitbaren Beweis dafür.

Es ist eine wahrhaft universelle Hymne, die aus Dankbarkeit an die Allgegenwart des Göttlichen in allen Dingen komponiert wurde. Eine solche Hymne vermag die Herzen der großen Menschenmengen unmittelbar zu berühren. Der Klang seiner Verse ist so markant und beinhaltet so viel Verbindendes, dass man kaum etwas darin finden würde, das sich mit streng christlichem Gedankengut assoziieren ließe. Im Gegenteil, es könnte das Werk eines Schamanen sein, der den himmlischen und irdischen Mächten sowie den vier Himmelsrichtungen dankt.

Die Positionierung, welche die römisch-katholische Kirche diesbezüglich einnimmt, nämlich, dass der Wortlaut einer solchen Hymne im Christentum völlig “normal” und “auch nicht fehl am Platz” sei, befriedigt mich jedoch nicht. 

Denn obwohl der christliche Glaube lautstark die Allgegenwart Gottes bejaht, kann er nicht umhin,  durch einen ihn charakterisierenden grundlegenden Dualismus, den Schöpfer außerhalb seiner Schöpfung zu stellen. Dieser Glaube macht aus Gott eine Art von Demiurg, der eines Tages willkürlich beschließt, seine Arbeit zu beenden, nachdem er auf der einen Seite das ‘Gute’ und auf der anderen das ‘Schlechte’ platziert hat; und dabei zeigt er sich auch allem Anschein nach völlig blind für das, was nicht den Menschen betrifft. In einem solchen System ist die Natur und alles, was sie ausmacht, in der Tat kaum mehr als seelenloses Accessoire und schmückendes Beiwerk. 

” Indem wir die Grundbestandteile der Schöpfung, die prinzipiell einfach nur als teilweises Zubehör des Lebens angesehen werden, als Bruder, Schwester und Mutter bezeichnen, wird ihnen tatsächlich eine Seele zugesprochen.  Was ist schamanischer als eine solche Lebenseinstellung? ”

Dieses auf Gut und Böse reduzierte Weltbild,  d. h. diese sehr vereinfachende Sichtweise der Ordnung der Dinge, widerspricht grundsätzlich der Gesamtaussage, die wir im Herzen des ‘Gesangs auf die Schöpfung’ finden … nämlich, dass alles mit einem Bewusstsein ausgestattet ist, folglich jedes einzelne Bewusstsein als aktiver Mitgestalter und Zeuge der universellen göttlichen Gegenwart geehrt werden muss. 

Indem wir die Grundbestandteile der Schöpfung, die prinzipiell einfach nur als teilweises Zubehör des Lebens angesehen werden, als Bruder, Schwester und Mutter bezeichnen, wird ihnen tatsächlich eine Seele zugesprochen. 

Was ist schamanischer als eine solche Lebenseinstellung? Auch wenn im ‘Gesang auf die Schöpfung’ alles auf das Einssein Gottes als “Gütiger Herr” zurückgeführt wird, liegt der Schwerpunkt dennoch auf den wesentlichen Mitgestaltern seiner Schöpfung. Entspricht dieser “Gütige Herr”, an den sich Franziskus wendet, nicht überraschenderweise dem “Großen Geist” der Schamanen? 

Gibt es gleichfalls ein schamanischeres Verhalten als das des ‘kleinen Armen’, des Poverello, der traditionsgemäß mit einem Wolf gut auskommt oder spontan einen Schwarm von Vögeln anzieht?

Wenn man sich auf diese lebendigen Bausteine der Schöpfung einlässt und sich damit vertieft befasst, indem man sie nicht auf einfache ‘Details’ reduziert, sondern sie als die wesentlichen Elemente einer Annäherung und eines Geisteszustandes erkennt, dann wird plötzlich klar, dass Franz von Assisi überall die Manifestation des Göttlichen wahrnahm, und selbstverständlich auch in den Tieren. Mit anderen Worten, es bedeutete, dass er ihnen ein Bewusstsein verlieh und hierdurch die Würde, respektiert und geliebt zu werden. 

Diese Lebensweise ist weit entfernt von dem klassischen Verhalten ‘guter Christen’, die sich beim bloßen Anblick eines Hundes in einer Kirche empört zeigen, als ob dieser eine Befleckung ihres Gotteshauses darstellen würde. 

Wir sind im Gegenteil hier dem ‘zum Priester Geborenen’, der der wahre Schamane ist, sehr nahe und erfahren sofort ein tiefes Gefühl der Verschmelzung mit allen Ausdrucksstufen des Lebens. 

Würden die Menschen es doch endlich erkennen: Das Verehren der Sonne, des Mondes, der Erde, des Wassers, des Feuers und der Luft, sei es in einer kindlich unschuldigen oder in brüderlicher Liebe, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, wofür das christliche Dogma im Großen und Ganzen steht! Es ist vielmehr ein Ansatz, der eine universelle Weisheit ausdrückt, die einst im Zentrum sogenannter ‘paganer’ Rituale stand, also etymologisch auf das Wort ‘ländlich’ zurückzuführen ist. Es handelt sich um die Herangehensweise eines Weisen, der frei von aller Zugehörigkeit ist, der seine eigene “Visionssuche” bereits vollzogen hat, und der daher das Allerheiligste innerhalb des großen Mosaiks der Schöpfung wahrnimmt. 

Wir sprechen hier, bei Franz von Assisi, von den Affirmationen eines Mannes, der die Einheit aller Dinge aus dem Inneren heraus verstanden hat und der über den Glauben hinausgewachsen ist, in welchen er hineingeboren wurde. Schließlich ist es die Haltung eines Meisters der Weisheit, der es geschafft hat, hinter der Vergänglichkeit von Maske und Gewand eines Mönches die monotheistische und pantheistische Betrachtungsweise des Universums in sich zu vereinen. 

Wenn wir tiefer darüber nachdenken, warum sollten diese beiden Wahrnehmungen sich widersprechen? Wenn das Göttliche allgegenwärtig ist, warum sollte es nicht versuchen, mit uns zu kommunizieren: z. B. mit Hilfe des Gestirns, das unsere Tage erleuchtet beziehungsweise mittels eines Sternbildes, das in der Nacht funkelt, oder durch das Wasser, das unser Gesicht reinigt, oder gar durch eine Meise, die sich zum Ausruhen auf eine Fensterbank setzt…?

Ich meinerseits habe den Eindruck, dass sich hier sehr wohl eine außerordentliche Kohärenz kundtut: Alles in der Natur bringt Gott zum Ausdruck, alle Lebensformen tragen das Erbe der göttlichen Essenz in sich und sind im selben Zuge mit einer eigenen Intelligenz und eigenen Sensibilität ausgestattet, um uns an deren Kontakt mit der höchsten Realität teilhaben zu lassen. 

Indem Franz von Assisi darüber nachsinnt, Mutter Erde oder seinem Bruder, dem Feuer, zu danken, zeigt er uns, inwieweit er mit der großen Seele der Welt kommunizieren kann, die eine Vielzahl anderer Seelen umfasst, d. h. anderen Formen des Bewusstseins, die Wegweisersteinen ähneln, die den Weg der Erleuchtung für uns abstecken. 

Eine große Seele ist in Wahrheit nicht das Eigentum einer Tradition, die erstarrt ist und sich unumstößlich gibt.  Sie drückt sich sicherlich innerhalb der Kultur ihrer Zeit aus, erleidet oft Verrat, bleibt aber für diejenigen jenseits aller Zuordnung, die ihre wahre Dimension zu erkennen wissen.

Vielleicht ist all dies der ‘Heiligen Inquisition’ nicht entgangen, als sie zwei oder drei Jahrhunderte später, nach dem Heimgang von Franz von Assisi, nicht damit zögerte, einige Franziskaner auf den Scheiterhaufen zu bringen … Merkwürdigerweise wird ‘darüber’ Stillschweigen bewahrt. 

Was auffällt, sobald man den Werdegang seiner Seele mit auch nur etwas Abstand betrachtet, mit anderen Worten, ihn losgelöst von der alles reglementierenden christlichen Konditionierung seiner Zeit und seines Gehorsamsgelübdes gegenüber der Kirche sieht, ist die Tatsache, inwieweit sie dennoch frei und unverhaftet geblieben ist. 

Seine wahre Freiheit war seine Fähigkeit, in den Ozean des Lebens einzutauchen, eine Fähigkeit, die die Intensität der Gemeinschaft seiner Seele mit allen Manifestationen des Göttlichen, das bis in die Unendlichkeit hineinreicht, bekundete. 

Es scheint mir unbestreitbar, dass Franz von Assisi auf seine Art, ohne es selbst zu wissen, ein Schamane war, auch wenn diese Aussage so manche Gewohnheiten des Denkens erschüttern wird. 

Eine große Seele ist in Wahrheit nicht das Eigentum einer Tradition, die erstarrt ist und sich unumstößlich gibt. 

Sie drückt sich sicherlich innerhalb der Kultur ihrer Zeit aus, erleidet oft Verrat, bleibt aber für diejenigen jenseits aller Zuordnung, die ihre wahre Dimension zu erkennen wissen. 

Eine solche Seele manifestiert ein “natürliches und spontanes Priestertum”, in dem das Eine und das Vielfältige sich begegnen und gegenseitig durchdringen. 

Auf diese Weise bekräftigt eine große Seele  ihre Liebe zu dem allumfassenden und einzigen Gott und fürchtet sich nicht, sich an die Naturgewalten zu wenden, um deren Hilfe zu erhalten … und um den Gesang des Universums immer klarer und kräftiger anzustimmen! 

War es letztendlich nicht auch Christus, der sich durchaus geneigt zeigte, die Stürme auf dem See Genezareth zu besänftigen…? –  Es ist dies eine Kraft, die als typisch schamanisch angesehen wird!

© Daniel Meurois

Siehe « Das Geheimnis des Franz d’Assisi », bei dem Silberschnur Verlag

Entdecken Sie das Interview von Thomas Schmelzer mit Daniel Meurois über sein Buch „Das Geheimnis des Franz von Assisi“.

www.mystica.tv

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